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Jeden Tag lauere ich, lauere ich auf diese Begegnung. Diese Begegnung, wenn er wieder kommt. Ich sitze ganz still im Dunkeln und lausche. Lausche auf seine Schritte, wenn er die hölzerne Treppe hinab steigt. Hinab zu meinem Verließ. Ein Verließ, das er selbst gebaut hat. Ein Verließ, das zu meinem Zuhause geworden ist. Vor sehr sehr langer Zeit. Ich war gerade 8 geworden, als er mir zum ersten Mal die Treppenkonstruktion zeigte. Bretter, die er unbeholfen in die Wand geschlagen hatte. Dennoch schien sie Jahre zu überdauern. Eine Treppe, die ich einmal hinab gehen musste und seither nicht wieder hinauf. Seither sitze ich hier unten. Seither hat er alle Glauben gemacht, ich sei entführt worden. Und obwohl es Untersuchungen und Hausdurchsuchungen gab, hatte niemand das Verließ unter dem Gartenhäuschen entdeckt. Und irgendwann hatte man die Suche aufgegeben. Er hatte mir sämtliche Artikel aus den Zeitungen vorgelesen. Mir damit so jeden Hoffnungsschimmer auf Rettung genommen. Niemand würde kommen und mich retten. Retten aus diesem Alptraum, dieser Qual. Mich erlösen von den körperlichen Schmerzen, die mein Vater mir Tag für Tag aufs neue antut. Denen ich ungeschützt ausgesetzt bin. Auch wenn es mir niemand gesagt hatte, so wusste ich doch sehr früh, dass dies nicht normal ist. Dass dies falsch ist. Und ich verstand, dass mein Vater ein böser Mensch war. Sollte er mich doch beschützen und mir nicht noch zusätzliches Leid antun. Ich wurde älter und reifer. Doch es änderte sich nichts. Er brachte mir Essen und Trinken, wusch mich und befriedigte seine abartige Lust an mir.

Heute bringt er mir ein Ständchen. Happy Sixteen! 16, seit acht Jahren unter der Erde. Doch was sind acht Jahre? Für mich ist es eine Zahl ohne jegliche Bedeutung. Wie fühlen sich acht Jahre an? Für jeden anders, da bin ich mir sicher. Meine Haut schimmert im faden Licht bleich. Ich fühle mich wie ein Monster. Eingesperrt und gefangen. Vor der Welt versteckt. Oder versucht er die Welt vor mir zu schützen? Und mit einem Male fühle ich das Böse in mir erwachen. Fühle wie sich etwas in mir regt.

Die letzten acht Jahre haben meinem Peiniger auch zugesetzt. Haben ihn in Sicherheit gewogen, haben ihn unvorsichtig gemacht. Er fühlt sich überlegen, mehr denn je. Überlegen gegenüber dem Gesetz und überlegen gegenüber mir. Doch während es so bei ihm unbemerkt bergab ging, habe ich mich in die andere Richtung entwickelt. Meine Instinkte wurden schärfer, ich hatte mich an die Dunkelheit und Stille gewöhnt. Ich konnte besser im Dunkeln sehen und hören. Mit der Zeit hatte ich ihn studiert, ich kannte ihn besser als er sich selbst. Ich hatte ihn lesen gelernt, ich wusste genau, wo es ihn zwickt und wo es drückt. Ich hatte ihn beobachtet und seine Schwachstellen erkannt. Ich wusste genau, wo ich mit dem Stein hinschlagen musste. Der Stein, den ich wochenlang heimlich ausgegraben hatte. Der Stein, der meine Rettung sein sollte.

Ich schlage so fest zu, wie ich kann. Er hatte es nicht kommen sehen, hatte nicht damit gerechnet. In dem Moment, wo er schon halb entkleidet war, schlug ich meinem Vater mit aller Kraft den Kopf ein. Er sank zu Boden und blieb reglos liegen. Dies wäre der perfekte Moment zur Flucht gewesen. Doch ich konnte die ganze Pein und den Schmerz der letzten acht Jahre nicht einfach hinter mir lassen. Nicht einfach vergessen. Nicht einfach gehen und verzeihen. Ich halte den Stein noch immer in meinen Händen, ein schweres Gewicht. Ich beuge mich über ihn und schlage erneut zu. Und wieder, und wieder und immer wieder bis sein Kopf nur noch eine blutige Masse darstellt. Beim letzten Schlag erfasst mich eine Woge Mitleid. Mitleid gegenüber dem Menschen, der einst mein Vater war. Und ich schlage noch ein letztes Mal zu, um das Monster zu töten. Das Monster, das aus ihm geworden war und das Monster, das er aus mir gemacht hatte. Ich lasse den Stein fallen und klettere hinauf. Hinauf in meine Freiheit.

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