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Jeden Morgen sehe ich ihn. Tag für Tag. Nicht immer an der selben Stelle und nicht immer um die gleiche Uhrzeit. Zeit und Ort variieren, doch der Mann bleibt der gleiche. Meist läuft er die Straße hinunter, im Morgengrauen. Im Dunkeln auf dieser verlassenen Straße, außerhalb jeglicher Ortschaft. Einzig seine orangefarbene Warnweste bricht sich im Licht meiner Scheinwerfer. Fängt das Licht ein und wirft es zurück. In diesem Moment denke ich an ihn, bin in meinen Gedanken bei ihm und frage mich, wohin er geht. Ist dies seine tägliche Fahrkarte zur Arbeit, als Anhalter?

Manchmal erhellen die Straßenlaternen das Innere meines Wagens, wenn ich an ihm vorbeifahre. Ob er mich auch sieht? Erkennt er bereits mein Auto und weiß, dass ich alleine darin sitze? Kennt er mich auch schon? Mein Auto, meinen Wagen, welches jeden Morgen an ihm vorbeifährt. Oder bin ich nur eine von vielen, die ihn ignorierend passieren? Die ihn absichtlich am Straßenrand zurücklassen, wissentlich in der Kälte stehend. Die ihm diese Mitfahrgelegenheit vorenthalten.

Ist denn der ausgestreckte Daumen nicht genug als Bitte zu verstehen? Diese stumme Aufforderung. Ist der Blick zu kalt? Die Miene zu bitter und entschlossen? Das Gesicht zu wettergegerbt? Sympathie und Wärme strahlt er keineswegs aus. Die sind hier fehl am Platz. Zu traurig und enttäuschend verlief sein Leben bisher. Er war nicht fähig die Liebe zu finden und sich zu bewahren. Alles verloren in dieser grausamen Welt. Das einzige Licht sind die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos, die ihn immer wieder für einige Sekunden erhellen. Für einen kurzen Moment Trost spenden. Den Trost, den er sich so sehnlichst wünscht. Für einen Augenblick Hoffnung schenken, die ihm bitterlich verwehrt blieb. Doch so schnell wie das Licht auftaucht, genauso schnell ist es auch schon wieder verschwunden.

Wie ein Tier fühlt er sich vom Licht angezogen. Er möchte es festhalten, sich darin baden und sich von der ausgehenden Wärme liebkosen lassen. Sobald es in der Ferne auftaucht, kann er den Blick nicht mehr davon abwenden. Er möchte ihm entgegenlaufen, doch ist er wie gefesselt und kann sich nicht losreißen. Er kann sich nicht mehr bewegen, nicht rühren. Wie versteinert steht er einfach da. Sieht das Licht auf sich zukommen. Es wird heller und heller, bis er komplett in das Scheinwerferlicht getaucht ist. Umhüllt von dem warmen, gelben Licht. Es sind keine dunklen Schatten mehr da, die um ihn herum lauern. Alle Ängste und jegliche Furcht sind vergessen. Es zählt nur noch das Licht. Eine Bewegung, so klein und unscheinbar, aber doch von so großer Bedeutung. Ein Lächeln tritt auf sein Gesicht. Der Aufprall kommt zur gleichen Zeit. Der Scheinwerfer zerbarst und das Licht erlischt. Wie in Zeitlupe fliegt der Anhalter durch die Luft, ungebremst schlägt er auf dem harten Asphalt auf. Einige Meter weiter, im Dunkeln. Doch das Licht hat sich bereits in seine Seele gebrannt, in dieser einen Sekunde, in der das Lächeln seine Härte gebrochen hatte. Er hört nichts mehr und er sieht nichts mehr. Bekommt nichts mit von dem folgenden Chaos und den Rettungskräften, die kurz darauf am Unfallort eintreffen.

Ich sehe die Aufräumarbeiten, als ich heute morgen meine Routinestrecke fahre. Eine halbe Stunde später als gewöhnlich. Kurz mache ich mir so meine Gedanken, was hier wohl passiert sein mag. Dankbar für die Verzögerung, die mich aufgehalten hatte. Wie schnell wird es mir auffallen, dass der finster dreinblickende Mann nicht mehr tagtäglich mein Leben kreuzen wird?

© 2014 by Merci

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